Physiotherapeut und Neurobiologe Prof. David F. Putrino, PhD, ist Leiter für Innovation an der Abteilung für Rehabilitation am New Yorker Mount Sinai Hospital. An seiner Klinik gibt es bereits seit längerem eine Anlaufstelle für Long-Covid-Patienten. Dort versuchen Patienten, ihre langfristigen Nachwirkungen des Virus durch neue und innovative Therapiekonzepte zu verbessern (siehe Kasten).
Prof. Putrino appelliert in einem Interview des Mount Sinai auf Twitter an alle Ärzte, ihren Patienten nach einer durchgemachten Infektion mit dem Coronavirus gut zuzuhören und sensibel auf eine eventuelle Post-Covid-Symptomatik zu sein (1).
Ärzte sollten Long Covid diagnostizieren, wenn die Definition der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) dafür erfüllt ist: «Laut CDC zählt jedes neue, zurückgekehrte oder anhaltende Symptom, das vier oder mehr Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftritt, und das nicht durch eine andere Ursache als die Infektion erklärbar ist (2).»
Zu den neuen Symptomen zählt man laut Prof. Putrino Gesundheitsprobleme, die erstmalig nach der akuten Virusphase auftreten. «Dazu können beispielsweise Kurzatmigkeit oder extreme Müdigkeit gehören, vielleicht auch Schwierigkeiten bei der Merkfähigkeit oder bei Denkvorgängen.» Aber auch gesundheitliche Probleme, die in der Vergangenheit bestanden haben und nach einer Covid-19-Erkrankung wiederkommen, zählen: «Ein gutes Beispiel dafür ist Asthma. Vielleicht hat der Patient es in der Kindheit gehabt, als Erwachsener hatte er aber nie ein Problem damit. Und nun hatte er Covid und plötzlich ist es wieder da.» Aber auch Symptome, die bereits zuvor vorlagen, und sich nach der Infektion signifikant verschlechtert haben, können bei Long-Covid-Erkrankten auftreten.
In einer viel beachteten Publikation hat eine Forschungskollaboration rund 200 Symptome dokumentiert, die nach einer zurückliegenden SARS-CoV-2-Infektion auftreten können (3).
Das Zentrum für Post-Covid-Versorgung des Mount Sinai verfolgt bei Long-Covid-Patienten den Zugang der autonomen Rehabilitation. Dabei geht man davon aus, dass einige Spielarten von Long Covid aus einer Störung des autonomen Nervensystems hervorgehen. Viele Patienten leiden unter einem posturalen Tachykardiesyndrom (POTS), bei dem ein Wechsel in die aufrechte Körperlage zu einem erhöhten Puls, Benommenheit und Schwindel führt. Teilweise ist das vergesellschaftet mit einer orthostatischen Hypotension, bei der der Blutdruck deutlich abfällt.
«Das autonome Nervensystem kontrolliert unwillkürliche Vorgänge wie Herzschlag, Verdauung, Atmung und Körpertemperatur», erklärt Prof. Putrino. «Alles, was der Körper normal auf Autopilot macht, kann Long Covid aus der Balance bringen.»
Die autonome Rehabilitation kann manchen Patienten helfen, ihren Zustand zu verbessern. Diese speziellen Art der Rehabilitation besteht aus leichten Kräftigungsübungen im Liegen oder im Sitzen. Durchgeführt können sie werden, wenn sie vom Patienten toleriert werden (5). Während der Übungen helfen Stützstrümpfe, Flüssigkeitsansammlungen in den Extremitäten zu vermeiden. Auch eine gesteigerte Flüssigkeits- und Salzzufuhr können die Situation manchmal verbessern. Zusätzlich können Atemübungen helfen, den Gasaustausch, und damit manche Symptome zu verbessern.
Prof. Putrino betont jedenfalls, dass kein aerobes Training mit den Patienten durchgeführt werden sollte: «Long Covid ist keine schlechte Fitness. Wenn man es wie eine Dekonditionierung behandelt und die Patienten dazu bringt, sich trotz ihrer Symptome anzustrengen, macht man es nur noch schlimmer.»
Das betrifft nicht wenige Infizierte: «Bis zu 30 Prozent der Erwachsenen, die Covid-19 gehabt haben, leiden an Symptomen, die ihren Alltag teilweise sehr einschränken. Und diese langfristigen Symptome verschwinden nicht so einfach.» Wichtig sei, die Patienten rechtzeitig zu diagnostizieren, damit sie eine angemessene Versorgung und Unterstützung erhalten und sich wieder erholen können.
Bei Kindern scheine der Anteil der längerfristig nach Covid-19 eingeschränkten etwas geringer, so Prof. Putrino. Aber, so merkt er an, «wir sehen trotzdem immer wieder Kinder im Zentrum.» Ausserdem vermutet er, dass die Störungen bei Kindern unterdiagnostiziert sind: Es fehle vielen Kindern in den jüngeren Alterskohorten für viele der typischen Long-Covid-Symptome schlicht und einfach das Ausdrucksvermögen. «Kinder sagen zum Beispiel ja nicht einfach Bescheid, wenn sie müder sind als sonst. Und auch ihr Denkvermögen ist nichts, über das sie besonders häufig nachdenken.»
Die beste Methode, Long Covid zu vermeiden, sei es, sich das Coronavirus gar nicht erst einzufangen. Ist es aber einmal passiert, rät Prof. Putrino, während der akuten Viruserkrankung und rund sechs Wochen danach keine grossen Sprünge zu unternehmen. «Die beste Evidenz, die wir aktuell haben, zeigt, dass man sein Risiko reduzieren kann, wenn man sich wirklich auskuriert.» Menschen, die glauben, Symptome körperlich oder mental durchtauchen zu müssen, um so schnell wie möglich wieder auf den Beinen zu sein, seien dagegen besonders gefährdet, so der Experte. «Gehen Sie sicher, dass Sie Ihrem Körper erlauben, sich vollständig von Covid zu erholen, bevor Sie wieder Ihren normalen Aktivitäten nachgehen.» Wenn möglich solle man sich auch Zeit damit lassen, sich am Arbeitsplatz wieder gesund zu melden.
Was den Zeitrahmen anbelangt, empfiehlt etwa der Pneumologe Dr. David Joffe von der University of Sidney, ebenfalls auf Twitter (4): «Egal, wie schwer die Erkrankung ist, ich gebe Patienten eigentlich immer den Rat, bis sechs Wochen danach so viel Ruhe zu geben wie möglich.» Diese Einschätzung würde auf seiner 30-jährigen Erfahrung beruhen, die ihm gezeigt habe, dass Entzündungen der Atemwege nicht zu unterschätzen seien: «Eine systemische Entzündung heilt nicht schnell ab.»
Dr. Res Kielholz, Ustermer Ärztepräsident, hat bereits viele Patienten mit Long Covid in seiner Praxis betreut. Auch für ihn hat das «Ruhe geben» einen wichtigen Stellenwert bei der Verbesserung der Symptomatik: «Viele meiner Long Covid-Patienten waren vor der Erkrankung sehr leistungsorientiert und sportlich, so dass es ihnen schwer fiel, auf Bewegung zu verzichten und das Erlernen der eigenen Grenzen (Pacing) nicht ganz einfach war. Fast alle Zustände mit Erhöhung der Stresshormone wurden schlecht toleriert. Interessant ist deshalb, dass ein niedrig dosierter Betablocker bei Symptomen des posturalen Tachykardiesyndrom (POTS) oft helfen kann, das Pulsrasen beim Wechsel in die stehende Position zu beruhigen. Alle Long Covid-Betroffenen mit entsprechenden Beschwerden sollten deshalb einen Schellong-Test durchführen lassen, um ein begleitendes POTS nicht zu verpassen.»
Was das Risiko ebenfalls etwas reduziere, sei das Impfen: «Die vorhandene Literatur deutet schon darauf hin, dass Menschen mit Durchbruchsinfektionen viel weniger wahrscheinlich Long Covid entwickeln.» Prof. Putrino schätzt, dass die vollständige Impfung die Wahrscheinlichkeit, langfristige Symptome zu entwickeln von rund 30 auf zehn Prozent senken kann. «Aber es muss uns bewusst sein, dass zehn Prozent immer noch eine überwältigend hohe Zahl ist. Wir müssen Menschen davor schützen, sich überhaupt zu infizieren.»
Nicht eindeutig ist für den Experten hingegen, ist, ob sich die Symptome von Menschen mit Long Covid mit einer Covid-19-Impfung bessern. «Am Anfang gab es die grosse Hoffnung, dass die Impfung die Lösung für Long Covid sein könnte. Aber als der Medien-Hype abgeklungen ist, haben wir gemerkt, dass das nicht die ganze Geschichte war. Wir sehen jetzt, dass die Impfungen in der Lage sind, die Symptome von Menschen mit Long Covid zu beeinflussen – es geht aber nicht immer in die gleiche Richtung. Einigen Patienten geht es danach schlechter, einigen besser, und viele merken gar keine Veränderung.» Darüber hinaus lasse die verfügbare Literatur darauf schliessen, dass eine Modulation der Symptome durch die Impfung in den allermeisten Fällen vorübergehend sei. «Nach zwei bis drei Wochen erreichen die Symptome typischerweise wieder ihre ursprüngliche Intensität.»