Atmen, kauen, schlucken – der Mensch macht Geräusche. Auch wenn diese dezent ausfallen, gibt es Betroffene, die darauf überempfindlich mit Ablehnung und Aggression reagieren. Misophonie gilt nicht als Krankheit und sollte doch behandelt werden.
Atmen, kauen, schlucken – der Mensch macht Geräusche. Auch wenn diese dezent ausfallen, gibt es Betroffene, die darauf überempfindlich mit Ablehnung und Aggression reagieren. Misophonie gilt nicht als Krankheit und sollte doch behandelt werden.
Atmen, kauen, schlucken – der Mensch macht Geräusche. Auch wenn diese dezent ausfallen, gibt es Betroffene, die darauf überempfindlich mit Ablehnung und Aggression reagieren. Misophonie gilt nicht als Krankheit und sollte doch behandelt werden.
Das Kind, das nicht mehr gemeinsam mit der Familie am Esstisch sitzen kann, weil es Kaugeräusche nicht erträgt. Der Partner, der aggressiv auf nächtliche Atemgeräusche reagiert. Die Kollegin, die das Meeting fluchtartig verlässt, weil der Chef mit dem Kugelschreiber klickt. Sie alle sind Misophoniker und haben eine Intoleranz gegenüber bestimmten Geräuschen, auch wenn sie leise sind und anderen nicht negativ auffallen würden.
Misophonie bedeutet «Hass auf Geräusche» (griech. «miso»: Hass, Abneigung; «phoné»: Ton, Laut, Stimme). Es handelt sich um eine selektive Überempfindlichkeit gegenüber menschlichen Körpergeräuschen oder Geräuschen, die von Menschen erzeugt werden. Reflexartig reagieren Betroffene mit Wut, Irritation, Aggression o. Ä, sobald sie Triggergeräusche wahrnehmen, schreiben Dr. Cornelia Schwemmle und Professor Dr. Christoph Arens von der Universitätsklinik für Hals, Nasen- und Ohrenheilkunde in Magdeburg in ihrer aktuellen Übersichtsarbeit «Wut im Ohr» (1). Die Autoren grenzen die Misophonie ab von anderen Formen der Geräusch(über)empfindlichkeit, der Hyperakusis und der Phonophobie.
Von Hyperakusis Betroffene haben eine Abneigung gegenüber Geräuschen mit normaler bis lauter Lautstärke. Dazu zählt der Schleudergang der Waschmaschine ebenso wie der Staubsauger. Sie reagieren psychisch mit Unruhe, Konzentrationsschwankungen und Angst sowie auf körperlicher Ebene unter anderem mit Blutdruck- oder Pulsschwankungen und vermehrter Schweisssekretion. Bei der Phonophobie kann die Angst mit körperlichen wie psychischen Symptomen auch ohne direkte Geräuschbelastung auftreten – hier steht die Angst vor dem Geräusch im Vordergrund.
Die Trigger bei einer Misophonie sind häufig leise, manchmal kaum wahrnehmbar, werden aber als überlaut und störende Bedrohung aufgenommen. Das Herz schlägt schneller, der Atem wird unruhig, manchem bricht der Schweiss aus. Misophonie-Reaktionen unterscheiden sich individuell, gemeinsam haben sie die ablehnende, aggressive Antwort auf das/die Triggergeräusch(e).
Misophonie kann weitreichende soziale Folgen für die Betroffenen haben, zumal sie oft ein Vermeidungsverhalten entwickeln. So werden Kontakte abgebrochen, der Bewegungsradius eingeschränkt, manche ziehen sich vollkommen zurück, können Schule oder Berufsleben nicht weiterverfolgen. Bislang ist Misophonie nicht als Krankheit definiert und keinem offiziellen Diagnosesystem zugeordnet.
Zu Inzidenz und Prävalenz lassen sich keine sicheren Aussagen treffen. Schätzungen gehen von 3 Prozent der Allgemeinbevölkerung aus, wobei Frauen vermutlich häufiger darunter leiden. Nach neueren Untersuchungen beginnt das Ganze etwa um das 14. Lebensjahr herum. Eine einzige Ursache gibt es nicht, vielmehr betrachtet man die Misophonie im Kontext audiologischer, psychiatrischer, kognitiv-verhaltensspezifischer und neurologischer Ursachen, möglicherweise tragen auch genetische Faktoren bei. Es bestehen einige Assoziationen, z.B. mit Tinnitus/Hyperakusis, Migräne, Störungen aus dem autistischen Formenkreis oder psychiatrischen Erkrankungen wie Depression und Angst-/Zwangsstörungen.
Auch wenn die Beschwerden bereits im Kindesalter auftreten: Die Störung wird meist erst im Erwachsenenalter erkannt. Checklisten, Fragebogenverfahren und Interviews helfen bei der klinischen Diagnose. Dazu kommt die HNO-ärztliche Untersuchung, um weitere Hörpathologien zu erfassen oder auszuschliessen. Als wichtige Ergänzung sehen die Autoren die psychiatrische Begutachtung, da eine psychiatrische Erkrankung Auslöser oder Kofaktor der Misophonie sein kann.
Mit 96 Prozent dominieren als Auslöser klar Essgeräusche, z.B. schmatzen, Chips essen oder Kaugummi kauen. Atem- und Schniefgeräusche liegen mit 85 Prozent an zweiter Stelle. Dann folgen Körperbewegungen wie schaukelnde Beine (78%) und Geräusche durch Finger, z.B. das Bearbeiten von Fingernägeln (74%). Töne aus Mund und Kehle machen 69 Prozent der Betroffenen rasend, Umgebungsgeräusche 59 Prozent und Rascheln 42 Prozent.
Eine standardisierte Therapie gibt es bisher nicht. Der erste Schritt für Betroffene besteht oft darin, über die Misophonie zu sprechen. Zu den Bewältigungsstrategien zählen die Triggervermeidung, das Nachahmen von auslösenden Geräuschen, Ohrstöpsel bzw. Kopfhörer sowie Ablenkungsmomente. Auch sollten Betroffene ganz allgemein auf Wohlbefinden und Entspannung achten, um dem Stress der Triggergeräusche gelassener begegnen zu können.
Aus dem Bereich der Neuromodulation werden häufig Kombinationen aus kognitiver Verhaltenstherapie, Gegenkonditionierung und audiologisch-technischen Verfahren eingesetzt. Tinnitus-Retraining-Therapie oder die Trauma Buster Technique, bei der die Reaktion durch gezielte Triggergeräuschverfremdung und Klopfakupressur reduziert werden soll, gelten noch als experimentell. Gegen die mit der Misophonie verbundene Angst und Aggression kommen evtl. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer infrage.
Schwemmle C, Arens C. Wut im Ohr. HNO 2022; 70: 3–13.