Wenn Säuglinge in den ersten Lebensmonaten viel schreien, denken viele Eltern, dass hinter der Unruhe Verdauungsprobleme stecken. Viele greifen dann statt normal Kuhmilch-basierter Pre-Milch zu einer laktosereduzierten Spezialnahrung. Diese wird häufig als Nahrung für Babys mit Koliken, Blähungen oder Verstopfung vermarktet.
Die Spezial-Säuglingsnahrung enthält aber zwar weniger Laktose als die normale Pre-Milch, der fehlende Milchzucker wird aber bei manchen Produkten durch Glukosesirup ersetzt, der aus Mais- oder Weizenstärke gewonnen wird. Amerikanische Forscher haben nun festgestellt, dass Kinder, die als Säuglinge laktosereduzierte Formula erhielten, in den ersten vier Lebensjahren häufiger Adipositas aufwiesen.
Die eingeschlossenen Kinder, die alle vor dem Alter von drei Monaten abgestillt worden waren, unterteilten die Autoren in zwei Gruppen. Die eine bestand aus Babys, die zumindest einmal laktosereduzierte Pre-Nahrung erhalten hatten. Die andere aus Kindern, die mit Säuglingsanfangsnahrung auf Kuhmilch-Basis ernährt wurden.
Das höchste Adipositas-Risiko stellten die Forscher bei Kindern fest, die im ersten Lebensjahr laktosereduzierte Pre-Milch-Produkte mit Glukose aus Maisstärke erhalten hatten. Diese Babys hatten ein um zehn Prozent erhöhtes Risiko, im Alter von zwei Jahren als adipös zu gelten, verglichen mit Kindern, die normale, von Kuhmilch abgeleitete, Pre-Milch erhielten (RR 1,10; 95%-KI: 1,02-1,2; p=0,02). Auch im Alter von drei und vier Jahren war das Adipositas-Risiko der mit der Spezialnahrung gefütterten Kinder noch signifikant um sieben bis acht Prozent erhöht. Der Effekt war dabei umso grösser, je länger die Kinder laktosereduzierte Milch erhalten hatten.
«Normale Säuglingsanfangsnahrungen enthalten in der Regel als Kohlehydratquelle ausschliesslich Laktose», sagt Professor Dr. Christian P. Braegger, Präsident der Ernährungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie, und leitender Arzt am Universitäts-Kinderspital Zürich.
«Das ist im Prinzip auch richtig so», denn die Laktose ist in der Milch aller Säugetierarten die einzige verdaubare Zuckerquelle.
«Für spezielle Änderungen der Zusammensetzung von Säuglingsanfangsnahrungen und spezielle Zusatzstoffe zu den gibt es nur wenig gute Indikationen. Sie haben häufig eher einen Marketing- als einen medizinischen Hintergrund», urteilt Prof. Braegger. «Gelegentlich suggeriert etwa die Verpackung, dass gewisse Säuglingsanfangsnahrungen für bestimmte Beschwerden eingesetzt werden sollten, z.B. bei Verstopfung oder bei Dreimonatskoliken.» Die wissenschaftliche Evidenz dazu fehlt aber oft.
Ausnahmen sind Spezialnahrungen, die für genau definierte Krankheitsbilder vorgesehen sind (z.B. für die Behandlung einer nachgewiesenen Kuhmilchproteinintoleranz oder einer Galaktosämie). Dazu gehört auch die kongenitale Laktoseintoleranz (kongenitaler Laktasemangel), eine extrem seltene Erbkrankheit, die fast nur in Finnland vorkommt. «In den letzten Jahrzehnten hatten wir nur im Kinderspital Zürich ein einziges Kind, das diese seltene Stoffwechselerkrankung aufwies. Es stammte aus einer skandinavischen Familie, wie es für diesen Gendefekt typisch ist. Für den Alltag hat das keine Bedeutung.»
Vermuten Eltern Verdauungsprobleme bei Kindern, steht die Laktose sehr schnell in Generalverdacht, berichtet Prof. Braegger. «Viele Eltern geben an, dass Kinder auf Käse reagieren. Dabei enthalten die meisten Käse praktisch keine Laktose mehr.» Aber auch schon bei Säuglingen erweckt die Laktose in den Säuglingsanfangsnahrungen gelegentlich Bedenken. «Diese Eltern kann man auf Basis der vorhandenen Evidenz meist beruhigen – dass es sich um eine echte kongenitale Laktoseintoleranz handelt, ist extrem unwahrscheinlich.» Dennoch sollten ggf. gastroenterologische Probleme beim Säugling durch einen Spezialisten abgeklärt werden, da sich andere Krankheiten dahinter verbergen können (z.B. eine Zöliakie).
Die primär adulte Laktoseintoleranz betrifft zwar je nach Ethnie relativ viele Erwachsene, v.a. in südlichen Ländern und Asien, tritt aber meist erst in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter klinisch signifikant in Erscheinung.
In seltenen Fällen ist eine temporäre sekundäre Laktoseintoleranz, wie sie nach einer Magen-Darm-Grippe auftreten kann, auch bei Säuglingen denkbar. «Aber selbst in solchen Fällen ist man davon weggekommen, laktosefreie Milch einzusetzen, oder gar abzustillen.» Im Gegenteil. Säuglinge mit einer Durchfallerkrankung sollten auf jeden Fall weitergestillt werden.
Prof. Braegger berichtet, dass Kinderernährungsexperten heute andere Empfehlungen abgeben als früher. «Früher hat man empfohlen, bei Kindern aus Familien mit erhöhter Allergiehäufigkeit, potenzielle Allergene möglichst lange zu vermeiden. Heute wissen wir, dass dies keine gute Strategie ist. Wenn Säuglinge im zweiten Lebenshalbjahr (d.h. ab dem 7. Lebensmonat) mit vielen verschiedenen Lebensmitteln konfrontiert werden, haben sie eine grössere Chance, eine breite Toleranz zu entwickeln.»
Aktuell empfehlen Kinderärzte daher, Säuglingen ab dem siebten Lebensmonat eine ausgewogene und vielseitige Ernährung anzubieten, und auch mit potenziellen Allergenen zu konfrontieren. «Wir wissen aus der Forschung, dass zum Beispiel Kinder, die im ersten Jahr Fisch bekommen, später seltener allergische Ekzeme und Rhinitis entwickeln.» Und auch eine HA-Milch, die früher sehr häufig eingesetzt wurde, wird heute nicht mehr empfohlen. Für Eltern sei das Thema Ernährung also eher einfacher geworden, so die Einschätzung des Experten.