Die Multiple Sklerose hat in den letzten 25 Jahren enorme Fortschritte bei der Diagnostik und Therapie erlebt, so das Fazit eines Symposiums der Schweizerischen MS-Gesellschaft. Dennoch gibt es weiterhin «unmet medical needs», zeigt Professor Dr. Andrew Chan, Inselspital Bern, auf.
Anlässlich des Symposiums «25 Jahre MS State of the Art» der Schweizerischen MS Gesellschaft zog Professor Dr. Andrew Chan, Ärztlicher Leiter Medizinbereich Neuro, Chefarzt Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern, eine Bilanz.
In den 2000er Jahren zog die «no evidence of disease activity» ein
In den 1990er-Jahren standen an krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) nur parenteral verabreichte Präparate wie Interferon-beta oder Glatirameracetat zur Verfügung, die mit dem Ziel einer moderaten Reduktion der Schubrate und Verzögerung der MS-Progression zum Einsatz kamen. Im Jahr 2004 leitete der monoklonale Antikörper (mAb) Natalizumab zwar eine neue Ära der MS-Therapie ein. Der Einsatz des Präparats ist jedoch nach wie vor aufgrund potenziell schwerer unerwünschter Wirkungen limitiert.
In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts folgten oral anwendbare Medikamente, was den MS-Betroffenen sehr entgegenkam, sowie neue mAb. Auch die therapeutischen Zielsetzungen änderten sich: Neu formulierte man beispielsweise Hemmung der Krankheitsaktivität, verbessertes Überleben oder NEDA (no evidence of disease activity).
Ausserdem bewirkte das PIRA-Paradigma einen weitreichenden Umdenkprozess. Die Prognose der MS hat sich enorm verbessert: Während von den vor dem Jahr 2000 diagnostizierten MS-Patienten im Alter von 50 Jahren 27 Prozent einen EDSS-Score von 6,0* aufwiesen, ging diese Rate bei Diagnosestellung nach dem Jahr 2000 signifikant auf 15 Prozent zurück.
Die Management-Konzepte wurden über die letzten Jahrzehnte modifiziert und adaptiert: So konnte sich die frühe DMT etablieren, Eskalations-, Deeskalations- und Induktionstherapien wurden diskutiert und man achtete verstärkt auf eine Optimierung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Ausserdem bekamen symptomatische Therapien und neuropsychologische Symptome mehr Gewicht im Management-Konzept der MS.
Die frühe MS-Therapie zahlt sich aus
Bei der Forderung nach einem frühen Therapiebeginn bei MS stellt sich die Frage, was damit überhaupt gemeint ist. Prof. Chan wies darauf hin, dass ein früher Therapiebeginn, auch mit sogenannten Plattformtherapien (Interferon-beta, Glatirameracetat), in den ersten fünf Jahren nach Diagnosestellung eine zeitlich verzögerte Progression zur sekundär chronisch progredienten MS (SPMS) zur Folge hatte, verglichen mit späteren Therapiestart (> 5 Jahre nach Diagnosestellung).
Deutlich weiter ging die ARISE-Studie. Hier startete die Therapie bereits beim Nachweis eines radiologisch isolierten Syndroms (RIS). Die asymptomatischen Personen mit RIS erhielten randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert Dimethylfumarat oral.
Obwohl sich ein signifikanter Therapieeffekt zeigte, auch auf die MRI-Befunde, gab der Experte zu bedenken, dass es sich um eine kleine Kurzzeit-Studie über zwölf Monate mit nur 87 Patienten handelte, und dass dabei das Risiko der «Generierung von MS-Patienten» besteht.
Welche Immuntherapie für welche Situation gilt
In der Schweiz bestehen spezifische Zulassungsmodalitäten für die Immuntherapie der MS; dazu verwies Prof. Chan auf Therapieempfehlungen, die gemeinsam von Experten der Swiss Multiple Sclerosis Society und der Swiss Neurological Society erarbeitet wurden (s. Tabelle).
Bei hochaktiver schubförmig remittierender MS (RRMS) kommen je nach Aktivitätsgrad und Verlauf der Erkrankung unterschiedliche Medikamente als Erstlinien- oder Zweitlinientherapie zum Einsatz. Prof. Chan weist darauf hin, dass aufgrund des Fehlens allgemein gültiger Definitionen von Aktivitätsgraden letztlich die Einschätzung der behandelnden Ärzte im Einzelfall entscheidend sei.
Allfällige Zustimmungen zu Kostengutsprachen dürfen die Therapie bei dieser häufig vulnerablen Patientengruppe nicht verzögern.
Bei aktiver RRMS bieten sich Natalizumab (bei JC [John Cunningham]-Polyomavirus-Negativität), Ocrelizumab, Ofatumumab und Ponesimod an.
Interferon-beta 1b, Ocrelizumab und Ofatumumab können bei aktiver schubförminger MS (RMS) eingesetzt werden.
Bei SPMS stehen Interferon-beta 1b, Ocrelizumab, Ofatumumab und Siponimod zur Verfügung.
Als bisher einzige Option bei aktiver primär progrendienter MS (PPMS) ist Ocrelizumab verfügbar.
In Zukunft weitere Parameter berücksichtigen
Prof. Chan betont, dass Aspekte wie Kognition, Fatigue oder Apathie, welche die Patienten enorm belasten können, nach mehr Aufmerksamkeit verlangen. Bei der Konzeption von MS-Therapiestudien sollten auch diese Parameter berücksichtigt werden, weil deren Verbesserung für Betroffene von hoher Relevanz wäre.
Abschliessend stellt Prof. Chan – bei einem Blick auf das Programm des ersten MS-State-of-the-Art-Symposiums im Jahr 1999 – fest, dass immer noch dieselben Fragen aktuell sind – nur auf einem höheren Level.
Abkürzungen: a: es besteht keine allgemeine Definition für aktiv oder hochaktiv b: Cladibrin kann bei therapienaiven Patienten zum Einsatz kommen mit negativen prädiktiven Faktoren laut klinischen Guidelines (z.B. DGN). c: nur für JCPyV-negative Patienten d: off label e: Langzeitdaten unterstützen die Anwendung von Interferon bei aktiver SPMS nicht
www.compendium.ch
www.spezialitaetenliste.ch, Limitatio laut BAG (Bundesamt für Gesundheit)