Interview mit Prof. Andrew Chan

Multiple Sklerose: „Mehr Gehör für Betroffene“

Heute steht eine Vielzahl von Medikamenten zur Behandlung der Multiplen Sklerose zur Verfügung. Das bedeutet, dass der Arzt meist eine geeignete Therapie finden kann. ‒ Ein Interview mit Prof. Andrew Chan, Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor der Universitätsklinik für Neurologie am Inselspital Bern.

Ein Teenager-Mädchen mit einer Behinderung sitzt im Rollstuhl, wird von einem Arzt betreut und lächelt einander an.
FatCamera/GettyImages

Worum handelt es sich bei der Multiplen Sklerose und wie äussert sie sich?

Prof. Andrew Chan: Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung des Nervensystems. Die Ursache besteht zu einem wesentlichen Teil aus einer Autoimmunreaktion, also einer Reaktion des Immunsystems, die gegen bestimmte Bestandteile des Nervensystems gerichtet ist.

Es kommt zu Nervenschäden, die sich in mehr oder weniger stark ausgeprägten neurologischen Störungen äussern, wie beispielsweise Sehstörungen, Empfindungsstörungen, Lähmungen, aber auch Blasenstörungen und Sexualstörungen. Auch eine im Vergleich zu früher erhöhte Erschöpfbarkeit oder eingeschränkte Leistungsfähigkeit können eine Folge davon sein.

Was bedeutet die Diagnose „Multiple Sklerose“ für Betroffene?

Der Verlauf einer MS ist individuell sehr unterschiedlich und vor allem zu Beginn der Erkrankung oft schubweise. Das heisst, dass sich die Beschwerden nach ein paar Tagen bis Wochen mehr oder weniger vollständig zurückbilden können. Grundsätzlich neigt die Erkrankung mit der Zeit jedoch zu einer Verschlechterung.

Für Betroffene ist die Ungewissheit sehr belastend, da man nicht vorhersagen kann, wann, wie und in welchem Ausmass sich die Krankheit im Weiteren entwickeln wird. MS betrifft meist auch junge Menschen, die sich mitten in der Karriere- oder Familienplanung befinden und nach der Diagnose in ihrer Lebensplanung erst einmal zutiefst erschüttert werden.

Wie würden Sie die Fortschritte in den Behandlungsmöglichkeiten zusammenfassen?

Die grössten Fortschritte sind im Bereich der sogenannten verlaufsmodifizierenden Therapie erzielt worden. Man unterscheidet zwischen Wirkstoffen, die bei einem milden Verlauf und solchen, die erst bei einem aggressiven Verlauf bzw. im fortgeschrittenen Stadium eingesetzt werden. Sie unterscheiden sich in ihren Wirkungen und Nebenwirkungen.

Daneben bestehen auch grosse Unterschiede in der Handhabung, also wie rasch von einer Therapie auf eine andere gewechselt werden kann bzw. in der Art und Weise, wie die einzelnen Substanzen ins Immunsystem eingreifen. Das muss jeweils individuell betrachtet werden. Mittlerweile gibt es neben den ursprünglichen Spritzentherapien auch Infusionen, die in unterschiedlichen Abständen gegeben werden sowie Tabletten zum Einnehmen.

Was bedeutet es, eine Vielzahl von verschiedenen Medikamenten zur Verfügung zu haben?

Auch wenn die Erkrankung nach wie vor unheilbar ist, so stehen uns heute fast ein Dutzend Medikamente zur Verfügung. Ich bin dankbar für jede Substanz. Wenn beispielsweise Nebenwirkungen auftreten oder die Wirkung sich nicht entfaltet wie erhofft, dann gibt es therapeutische Alternativen. Das heisst, wir versuchen, die Therapie vorausschauend zu planen, und stellen uns auf mögliche Veränderungen ein, die seitens der Erkrankung, aber auch seitens der Lebenssituation entstehen können, zum Beispiel ein Schwangerschaftswunsch.

Bei einer Frau, die schwanger werden will, gibt es Medikamente, die erst bei Eintritt einer Schwangerschaft abgesetzt oder unter bestimmten Umständen auch weiterhin eingenommen werden können. Eine Konzertpianistin benötigt vielleicht von Anfang an eine aggressive Therapie, auch wenn sich nur der kleine Finger taub anfühlt. Und so entscheide ich mich bei jedem Patienten für eine bestimmte Therapie und versuche, es zu begründen.

Welche weiteren Möglichkeiten gibt es?

Zusätzlich zu den medikamentösen Therapien existieren auch die symptomatischen Therapien wie Physiotherapie, Ergotherapie, Therapien zur Behandlung der Blasenfunktionsstörung, usw.. Dass wir einen Patienten nach Hause schicken müssen mit den Worten: „Wir können leider nichts für Sie tun“, das sollte es nicht mehr geben. Meiner Meinung nach kann man immer versuchen, etwas zu verbessern, und wenn es die Informationen sind.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Es ist schade, dass ich in einem Land wie der Schweiz immer noch Kostengutsprachen für grundlegende Dinge wie eine intensivierte Physiotherapie schreiben muss. Das sollte nicht notwendig sein. MS ist mit vielen Vorurteilen behaftet.

Betroffene denken gleich an den Rollstuhl. Arbeitgeber fürchten um die Produktivität ihrer Mitarbeiter. Gynäkologen wissen nicht, wie sie mit dem Kinderwunsch ihrer Patientinnen umgehen sollen. Dabei gibt es heute viele Möglichkeiten. Ich wünsche mir, dass Betroffene mit ihren Ängsten und Unsicherheiten nicht alleine gelassen werden und mehr Gehör finden.